Interview mit dem Schriftsteller Steven Uhly: Regensburg liest „Glückskind“

Ab dem nächsten Wochenende ist es soweit: Unsere Stadt liest ein Buch. Das klingt zunächst einmal recht unwahrscheinlich und ganz schön ambitioniert. Aber es ist wahr. Lesungen, Veranstaltungen und Workshops stellen das Thema und den Autor eines einzigen Buches in den Mittelpunkt. In Theatern, Schulen, Kneipen, auf Bühnen und Ausstellungen. Das Buch heißt „Glückskind“ und stammt aus der Feder von Steven Uhly, erschienen im Secession Verlag. Die Story handelt (ohne zuviel verraten zu wollen) von Hans, der in einer Hochhaussiedlung als Messie vor sich hinvegetiert – bis er ein unbekanntes Baby in den Mülltonnen findet. Es ist das „Glückskind“, ein Glücksfall, der seinem verpfuschten Leben frischen Schwung bringt, alles durcheinander wirbelt – um dann den inneren Kompass des Helden neu auszurichten. Dieser Prozess ist berührend, sanft und genau zu lesen. Und bis zuletzt wunderbar spannend! Die Sparkasse Regensburg ist als Sponsor an dem Projekt „Regensburg liest ein Buch“ beteiligt und hatte vorab die Chance, mit dem erfolgreichen Autor ein Interview zu führen.

 

Lieber Herr Uhly, Max Frisch hat einmal über Zufälle gesagt: “Wir erleben keine, die nicht zu uns gehören. Am Ende ist es immer das Fällige, was uns zufällt.” Trifft das auch ein wenig auf das Personal in „Glückskind“ zu?

Man erzählt nur dann Geschichten, wenn man davon überzeugt ist, dass gerade der Zufall einen Sinn birgt, der sich uns zwar nicht unmittelbar erschließt, aber eben doch durch eine Geschichte. Geschichten versuchen, Komplexität zu veranschaulichen und dem Zufälligen einen Rahmen zu geben, an dem wir uns festhalten können. Selbst die verstörendsten Geschichten tun dies.

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Ein großer Romantitel von Ihrem Kollegen Daniel Kehlmann heißt „Die Vermessung der Welt“. Beim Lesen von Glückskind hatte ich ganz stark den Eindruck, dass Sie auch gerne Maß nehmen. An der Gesellschaft in der wir leben, aber noch viel leidenschaftlicher die Menschen und ihre Gefühle. Was hat Sie an Glückskind eigentlich mehr gereizt: die erzählte Geschichte, das Soziogramm oder die Gefühle mit der die Protagonisten sie durchleben? Ist das Buch eine Vermessung der Menschen und ihrer Fallhöhen?

Ich würde weniger von Vermessung als von Öffnung sprechen. Ich glaube, dass wir Menschen alles miteinander teilen, was es an Menschlichem überhaupt gibt, und je weiter ich mich dafür öffne, desto besser kann ich erfassen, warum jemand etwas tut. Ich kann es nicht im Nachhinein analytisch erklären, sondern nur in dem Augenblick, in dem es geschieht. Ich benötige also die Geschichte, die ich schreibe, um sowohl mich selbst als auch die Romanfiguren in ihrem Handeln zu erkennen. So gesehen ist das Erzählen eine Geschichte immer auch eine Möglichkeit, die Grenze zwischen Innen und Außen bedeutungslos werden zu lassen.

 

Ich muss zugeben. Der Titel Glückskind hat mich von Anfang an etwas irritiert. Zuerst (also vor der Lektüre) dachte ich irrtümlicher Weise, dass es sich dabei um typische Hausfrauenliteratur handeln muss. Nachdem ich den Plot nach ein paar Seiten begriffen hatte, erschien er mir etwas zu platt aber griffig. Am Ende, auch in Vorbereitung auf diese Fragen, begann ich wieder zu rätseln. Dazu zwei Fragen:

a) War der Titel Ihre erste Wahl?

b) Im Vergleich zu allen anderen Figuren bleibt Felizia (die ja eigentlich Chiara heißt und später auch so genannt wird) den ganzen Roman über recht luzid. Klar, sie hat eine klare Rolle und Funktion in der Geschichte, zugleich ist sie (zu den anderen, sehr echten und lebendigen Helden) aber auch ein wenig unwirklich. Sie isst, sie schläft, sie schaut, was Babys ebenso machen. Aber auch nicht viel mehr. Was ist sie für Sie als Autor? Tatsächlich nur ein prototypisches Baby – oder fast schon ein Engel?

 

a) Mir war von Anfang an klar, dass ich eine klassische Glückskind-Geschichte schreibe. Doch zunächst wehrte ich mich gegen diesen Titel. Erst, als mein Verleger in einem Telefonat sagte: „Wenn es eine Glückskind-Story ist, dann nenn‘ sie doch auch so“, wurde mir klar, dass es keinen Sinn hat, das Offensichtliche zu leugnen. Heute empfinde ich es eher als eine Ehre, dass mein Roman in dieser Tradition steht. Das Glückskind-Motiv ist uralt, vermutlich mehrere tausend Jahre. Und es ist stets ein zweischneidiges Schwert: das Glückskind hat immer Glück im Unglück. Diese Spannung macht den Reiz aus.

 

b) Marie, Felizia, Chiara ist ein ganz normales Baby. Sie ist in einem Alter, in dem Babys noch recht beschränkte Möglichkeiten haben. Als ich das Buch schrieb, war meine jüngste Tochter selbst noch ein Kleinkind, und deshalb kann man wohl sagen, dass Chiara auch ein Porträt meiner Tochter ist. Dass Sie sie als unwirklich empfinden, verstehe ich überhaupt nicht. Andererseits könnte man Chiaras „Funktion“ durchaus als engelhaft bezeichnen, wenn man die Handlung nur aus Hans‘ Perspektive betrachtet.

 

Ihr neuer und vierter Roman heißt Königreich der Dämmerung und spannt einen weiten, historischen Bogen über das  Schicksal einer jüdischen Flüchtlingsgruppe. Um Glückskind besser einordnen zu können und weil ich gerne wissen wollte, wie tragfähig und konsistent Ihr Stil ist, habe ich ihn auch gelesen – und war begeistert. War das Projekt in seiner Anlage auch ein Gegenentwurf zur fast schon kleinbürgerlich, hermetischen Welt in Glückskind? Wollten Sie das Fenster aufreißen und die Welt hereinlassen, die Sie, wie ich Ihrer Biografie entnommen habe, ja auch gut kennen?

Das ist eine interessante Verbindung, die Sie da zwischen diesen beiden Romanen herstellen. Ich kann Ihre Frage weder mit Ja noch mit Nein beantworten, da es immerhin möglich ist, dass ich unbewusst so gehandelt habe. Bewusst wollte ich nach dem Glückskind einen epischen Stoff erzählen, der mir mehr Möglichkeiten gibt. Man muss dazu sagen, dass beide Stoffe einen längeren Vorlauf hatten. Die ersten 100 Seiten von Königreich der Dämmerung entstanden 2004, als ich noch Gastdozent für Literaturwissenschaften in Brasilien war. Damals spürte ich, dass noch nicht reif genug für einen so großen Stoff war. Der Glückskind-Stoff wiederum entstand 2008 in Form einer Steggreif-Geschichte, die ich meiner damals dreieinhalb-jährigen ältesten Tochter vor dem Schlafengehen erzählte.

 

Ich glaube, es gibt einerseits eine direktere Verbindung zwischen Mein Leben in Aspik und dem Königreich der Dämmerung, und andererseits gibt es zwischen allen Romanen, die ich bisher geschrieben habe einen klaren Zusammenhang: in allen taucht das Motiv des verlassenen Kindes auf. Warum das so ist? Wer weiß.

 

Bei der Lektüre glaubte ich Parallelen zu großen Nachkriegsautoren wie Johannes Mario Simmel oder auch Erich Maria Remarque zu entdecken, die ja auch sehr erfolgreich zu ihrer Zeit waren. Zufall? Wie haben Sie diesen Sound hinbekommen, der die Story auch stilistisch so nah und authentisch an die Zeit heranrückt?

Zunächst einmal: vielen Dank für diesen schmeichelhaften Vergleich! Bewusst habe ich mich nicht an ihnen orientiert. Da ich von meiner Ausbildung her Literaturwissenschaftler bin, und dies nur deshalb wurde, weil ich von klein auf viel las und schrieb, ist der Fundus, aus dem ich schöpfe, ebenso groß wie unübersichtlich. Simmel und Remarque lass ich in meiner Jugend, sollte ich jedoch eine bewusste literarische Prägung angeben, so würde ich die südamerikanische Boom-Literatur nennen, d.h. Gabriel Garcia Marquez, Alejo Carpentier, Jorge Luis Borges, João Ubaldo Ribeiro, aber auch den Portugiesen José Saramago. Am meisten bewundere ich jedoch Astrid Lindgren.

Steven Uhly

 

Auch in Königreich der Dämmerung  sind da wieder die einfachen, schönen, oft sehr kurzen Sätze aus Glückskind. Unterbrochen von langen, nur durch Kommata getrennten Wortwellen. Können Sie unseren Lesern kurz und erklären: In welchem generellem Verhältnis steht bei Ihnen die Sprache zum Inhalt?

Sprache hat für mich sehr viel mit Musik und Rhythmus zu tun, doch während Musik gewissermaßen Sinn ohne Aussage ist, entsteht durch den Inhalt der Sprache eine andere Stimmigkeit. Ich würde sagen, dass Schreiben ein synästhetischer Vorgang ist, in dessen Verlauf verschiedene Sinneswahrnehmungen und Aspekte des Bewusstseins ineinandergreifen, ohne dass der analytische Geist dies kontrolliert. Im Gegenteil, der analytische Geist würde eher stören, denn dort regiert das Ich des Autors, und das hat in einer Geschichte nichts zu suchen.

Letzte Frage: Freuen Sie sich auf Regensburg, waren Sie schon einmal hier? Verbinden Sie irgendetwas mit unserer Stadt?

 

Ja, ich freue mich sogar sehr auf Regensburg, ich könnte mir keine schönere Stadt für ein solches Projekt vorstellen. Zweimal war ich bisher dort, beide Male wurde ich von Herrn und Frau Dombrowsky zu einer Lesung eingeladen. Jetzt freue ich mich auf ein Wiedersehen mit ihnen und mit Regensburg.

 

Lieber Herr Uhly, vielen Dank für Ihre Antworten. Wir freuen uns auch und wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg, noch viele gute Bücher und eine glückliche Zeit! 

 

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